Berliner Modellkitas
Interview mit Anke Caspers
Anke Caspers übernimmt seit Juni 2020 die Projektleitung der Vernetzungsstelle „Berliner Modellkitas für die Integration/Inklusion von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung". Die Vernetzungsstelle wird vom Verband Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz getragen. Das Projekt startete 2016. Es wurde von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Soziales auf der Grundlage des Masterplans für Integration und Sicherheit ins Leben gerufen und ist fester Bestandteil des Berliner Gesamtkonzepts zur Integration und Partizipation Geflüchteter. Mit den Projektmitteln werden Kitas von unterschiedlichen Trägern in verschiedenen Bezirken Berlins als Modellkitas gefördert. Die Vernetzungsstelle bietet den Modellkitas die Möglichkeit für Fachaustausch, Weiterbildung und Vernetzung. Die hier gebündelten Kenntnisse und Erfahrungen sowie gute Praxisbeispiele werden über einen regen Fachaustausch auch anderen Berliner Kindertageseinrichtungen zugänglich gemacht.
Im Interview gibt Anke Caspers einen Einblick in die Arbeit der Modellkitas und erzählt, was in der Zusammenarbeit mit Geflüchteten wichtig ist und wie die Integration durch die Kitas gefördert/gestärkt werden kann.
Wie sieht das Konzept der Modellkitas aus? Welche Zusammenarbeit und Vernetzung bestehen mit anderen Kitas in Berlin? Welche Entwicklung können Sie seit Beginn des Modellprojektes beobachten?
Im Rahmen regelmäßiger Netzwerktreffen tauschen sich die Modellkitas aus, um ihre pädagogische Praxis weiterzuentwickeln und voneinander zu lernen. Bei den Treffen teilen die Fachkräfte zum Beispiel ihre Erfahrungen im Bereich der Eingewöhnung der neuen Kinder. Immer wieder werden auch Expertinnen und Experten für fachliche Impulse eingeladen. Themen sind beispielsweise Traumapädagogik, Sprachförderung, die Arbeit mit Kindern mit Behinderungen und Fluchterfahrung sowie kultursensibler Kinderschutz.
Das übergeordnete Ziel ist es, das gebündelte Wissen für die gesamte Berliner Kitalandschaft zugänglich zu machen. Die Modellkitas sind zum einen mit anderen Kitas in der gleichen Trägerschaft gut vernetzt. Ein weiterer wichtiger Vernetzungsort ist der Sozialraum. Hier bauen die Modellkitas Verbindungen zu anderen Einrichtungen über lokale Austausch- und Vernetzungsrunden auf.
Darüber hinaus bieten die Modellkitas Konsultationen und Beratungsgespräche an, die von allen Berliner Kitas und Fachschulen wahrgenommen werden können. Die konsultierenden (angehenden) Fachkräfte sind sehr interessiert und dankbar für den Einblick in die Modellkitas.
In Zusammenarbeit mit den Modellkitas entstand die Animation „Zusammenarbeit mit Familien mit Fluchterfahrung. Erkenntnisse der Berliner Modellkitas“. Über diese können Interessierte einen ersten Einblick in die Arbeit der Berliner Modellkitas gewinnen. Auf der Homepage des Projekts finden sich neben der mit der Evangelischen Hochschule Berlin und den Modellkitas erarbeitete Handreichung „Kultursensible Kita-Pädagogik“ weitere Veröffentlichungen, Materialien und hilfreiche Kontakte zu relevanten Themen der Arbeit mit Familien mit Fluchterfahrung.
Seit dem Start des Projekts 2016 ist viel passiert. Zu Beginn gab es noch eine große Unsicherheit in den Einrichtungen im Hinblick auf die Eingewöhnung und Zusammenarbeit mit den neuen Familien mit Fluchterfahrungen. In der Zwischenzeit haben die Fachkräfte viele gute Erfahrungen mit den Familien gesammelt und sich fachlich stetig weitergebildet. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen haben sie im Netzwerk und mit anderen Kitas geteilt. Dieses Wissen und der Erfahrungsschatz sind gerade durch den aktuellen Krieg in der Ukraine hochaktuell und wichtig.
Wie kann sich die pädagogische Praxis/Qualität durch die Integration von Familien mit Fluchterfahrung in den Kitas weiterentwickeln? Was ist dabei wichtig? Wie kann das Ankommen und die Zusammenarbeit mit geflüchteten Familien gelingen?
In vielen Sozialräumen gibt es schon seit Jahrzehnten Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte. Die Familien sprechen unterschiedliche Sprachen, leben unterschiedliche Religionen und Bräuche und feiern unterschiedliche Feste. Das ist auch für den gemeinsamen Kita-Alltag bedeutsam. Die verschiedenen Lebensweisen und -umstände stellen unterschiedliche Anforderungen an die pädagogische Arbeit und die Fachkräfte in den Kitas.
Durch das Ankommen vieler Familien mit Fluchterfahrung gibt es in den Kitas noch einmal eine andere Notwendigkeit, sich mit diesen verschiedenen Anforderungen auseinanderzusetzen. Dabei ist es wichtig, die Pädagogik vorurteilsbewusst zu gestalten und das eigene Konzept immer wieder zu reflektieren und zu überarbeiten: Welche Feste feiern wir eigentlich in unserer Kita? Was nehmen wir wahr und was schätzen wir wert? Durch diese Auseinandersetzung haben Fachkräfte, Eltern und Kinder die Chance, Vielfalt als gesellschaftliche Realität wahrzunehmen und wertzuschätzen und Kinder vor Diskriminierung zu schützen.
Für die Integration von Familien mit Fluchterfahrung in die Kita ist es hilfreich, bei Bedarf eine Sprachmittlung oder Übersetzungshilfe bei Kennerlerngesprächen und während der Eingewöhnungsphase hinzuzuziehen, zum Beispiel über Angebote wie Dolpäp oder die Stadtteilmütter. Manche Kitas haben Mitarbeitende mit unterschiedlichen Herkunftssprachen, was die Zusammenarbeit immer erleichtert. Es geht hier neben den Sprachkenntnissen auch um das Verständnis dafür, wie es ist, irgendwo neu anzukommen und sich erstmal nicht auszukennen. Sich als Team mit diesen Perspektiven auseinanderzusetzen, ist für die Zusammenarbeit mit Eltern sehr fruchtbar.
Außerdem ist es wichtig, sich Zeit für die neuen Familien zu nehmen und den Eltern Zeit zu lassen, Vertrauen aufzubauen. Mit einer wertschätzenden, offenen und fragenden Haltung können die Fachkräfte den Eltern das für sie neue System Kita erklären: Wie läuft die Eingewöhnung ab? Wie ist der Tagesablauf? Was gibt es zu essen? Dabei lohnt es sich, mehr auf die Gemeinsamkeiten zu gucken als auf die Unterschiede – und zu merken, wie viele Gemeinsamkeiten es doch gibt. Des Weiteren sollten Einrichtungen Eltern in den Kita-Alltag miteinbeziehen und ggf. an Hilfestrukturen im Sozialraum vermitteln. Es ist hilfreich, auch die Möglichkeiten der Traumapädagogik sowie ein kultursensibles Vorgehen im Blick zu haben.
Welche Herausforderungen erwarten Sie für die Kitas durch den Ukraine-Krieg?
Unter anderem durch die neu angekommenen Kinder aus der Ukraine gibt es aktuell einen größeren Bedarf an Plätzen. Herausfordernd dabei ist, dass in Berlin die Plätze grundsätzlich knapp sind. Bereits vor Beginn des Krieges hatten nicht alle Kinder, die ein Recht auf Bildung in der Kindertagesbetreuung haben, einen Kita-Platz. Für Kinder aus Familien mit Fluchterfahrung ist die Hürde, einen Kita-Platz zu finden noch höher als für andere Familien. Als der Krieg in der Ukraine begann, appellierte die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Kitas in einem Trägerschreiben, Kinder aus der Ukraine unbürokratisch und niedrigschwellig aufzunehmen. Viele Kitas möchten gern Plätze anbieten, haben aber nicht unbedingt die Möglichkeit dazu. Damit alle Kinder von den Angeboten der frühen Bildung profitieren, muss der Platzausbau unbedingt weiter fortgeführt werden!
Wenn Kinder mit Flucht- und Kriegserfahrungen in die Kita kommen, stellen sich viele Fachkräfte die Frage, welche traumatischen Erfahrungen sie gemacht haben: Wie traumatisiert sind die Kinder? Wie gehen wir damit um? Erfahrungen, das Land zu verlassen und Familie zurückzulassen können sehr traumatisierend auf die Kinder wirken. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass nicht alle Kinder mit Fluchterfahrung gleichermaßen traumatisiert sind und auch Kinder, die schon immer in Deutschland gelebt haben, traumatisiert sein können. Das ist immer individuell. Es kommt also allen Kindern zugute, wenn Fachkräfte traumapädagogisch weitergebildet sind.
Welche Maßnahmen müssen auf fachpolitischer Ebene umgesetzt werden?
Angelehnt an die Schulsozialarbeit könnte ein Angebot der „Kita-Sozialarbeit“ allen Kindern zugutekommen. Familien, die schon immer in Deutschland gelebt haben, stehen auch vor unterschiedlichen Herausforderungen und brauchen manchmal Unterstützung. Familien mit Fluchterfahrungen stehen dabei vor der besonderen Herausforderung, sich erst einmal in einem neuen Land und mit einer neuen Sprache zurechtzufinden und Zugänge zu bestimmten Strukturen zu finden. Da leisten Kitas und Fachkräfte aktuell schon einiges, die Familien anzusprechen und zu begleiten. Vielfach geht das über ihren eigentlichen Auftrag hinaus. Es wäre zum Beispiel hilfreich, eine zusätzliche Kraft in den Kitas zu haben, die das Ankommen in der Kita erleichtert und den Alltag der Familien sowie den Übergang in die Schulen begleiten und vorbereiten kann. Denn die Kita ist ein wichtiger Start, um im Bildungssystem anzukommen.
Neben dem Ausbau von Kita-Plätzen ist es auch wichtig, den Beruf der pädagogischen Fachkräfte attraktiver zu machen. Mehr Wertschätzung sollte zudem die Mehrsprachigkeit von Kindern erfahren – denn jede Sprache ist ein Schatz.
Damit die Fachkräfte mit den verschiedenen familiären Hintergründen der Kinder gut umgehen und die Familien entsprechend begleiten können, ist es wichtig, diese stärker in vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung fortzubilden.