Digitalisierung der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen

Interview mit Prof. Dr. Helen Knauf von der Hochschule Bielefeld

Prof. Dr. Helen Knauf lehrt und forscht zur Bildung und Sozialisation im Kindesalter. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Digitalisierung und Bildungsdokumentation in Kitas.

Welche Veränderungen gehen mit der zunehmenden Nutzung digitaler Instrumente in Kitas einher?

„Grundsätzlich kann man zwischen Veränderungen für die Arbeit der Fachkräfte und für die Kinder selbst sprechen. Mit anderen Worten, einmal geht es um die mittelbare pädagogische Arbeit und einmal um die unmittelbare pädagogische Arbeit.

Beginnen wir mit der den Veränderungen, die für die unmittelbare pädagogische Arbeit, also für die Kinder mit der Digitalisierung einhergehen. In fast allen Bildungsplänen der Bundesländer ist Medienbildung inzwischen fester Bestandteil der dort genannten Bildungsbereiche. Die Förderung von Medienbildung ist also Teil des Auftrags von Kindertageseinrichtungen. Dabei geht es jedoch nicht darum, dass Kinder etwa die Bedienung eines Tablets lernen oder mit Hilfe von bestimmten Apps inhaltliche Ziele erreichen sollen. Ziel ist es vielmehr, dass Kinder lernen, digitale Werkzeuge als selbstverständliche Elemente ihres Lebensalltags zu nutzen. Beispielsweise, indem sie ein digitales Foto machen oder etwas im Internet recherchieren. Ziel ist es aber auch, dass Kinder etwas über Medien und Digitalisierung lernen. Beispielsweise ist es notwendig, dass Kinder verstehen, dass digitale Geräte von Menschen programmiert wurden und keine eigenständigen Individuen sind. Wichtig ist zudem, dass Kinder sich mit den Gefahren auseinandersetzen, etwa wenn das Smartphone einen zu großen Raum im Leben einnimmt. Diese Kompetenzen müssen nicht notwendig mit Hilfe von Bildschirmmedien erworben werden. Inzwischen gibt es auch gute Strategien, wie Kinder sich analog mit digitalen Medien beschäftigen können.

Die Arbeit der Fachkräfte, also die mittelbare pädagogische Arbeit, wird ebenfalls durch die Digitalisierung beeinflusst. Dass viele Verwaltungsprozesse über Computerprogramme organisiert werden, ist im Grunde heute schon ein alter Hut. Hinzu kommt, dass bereits seit einigen Jahren für Fachkräfte die Recherche von Ideen für den Kita-Alltag über das Internet stark verbreitet ist. Dies wird auch in Befragungen immer wieder deutlich. Jedoch nehmen Fachkräfte dies oft gar nicht als Teil der Digitalisierung war, weil „etwas im Internet nachzuschauen“ so ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltags geworden ist. Auch für die Weiterbildung spielt der digitale Kanal eine wachsende Rolle. Digitale Weiterbildungen wie Webinare oder Online-Fortbildungen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie und den damit notwendigen Abstandsregelungen. Was sich ebenfalls verändert, ist die Kommunikation mit Eltern. Für diese werden immer häufiger Apps und/oder Messenger Dienste eingesetzt. Und schließlich werden vermehrt auch diagnostische Verfahren – wie beispielsweise Sprachstandserhebungen – und die Bildungsdokumentation mithilfe von Apps durchgeführt.“

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die pädagogische Arbeit aus?

„Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es sich bei der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen um Care-Arbeit handelt. Diese kann und soll nicht einfach durch digitale Prozesse ersetzt werden. Der Kern der Arbeit muss also physisch bzw. analog bleiben. Um diese pädagogischen Kernaufgaben herum gruppieren sich aber eine Reihe zusätzlicher Tätigkeiten. Diese können durchaus mit Hilfe digitaler Technologien vereinfacht und verbessert werden. Und dort hat, wie gesagt, die Digitalisierung schon einiges verändert (Recherche, digitale Weiterbildung usw.) und wird dies in Zukunft noch weiter tun (Elternkommunikation, Beobachtung und Dokumentation). Und was sich eben auch verändern wird: Pädagogische Fachkräfte sind gefordert, das Thema Medienbildung in den pädagogischen Alltag einzubeziehen.“

Wie verändert sich die Bildungsdokumentation?

„Auf den ersten Blick verändert sich zunächst wenig. Ein Beispiel: Bei einem typischen Portfolioeintrag wird ein Foto verwendet und die Fachkraft schreibt dazu einen kurzen Text. Ob ich das nun auf einem Blatt Papier mache oder in ein Tablet tippe, verändert erst einmal kaum etwas. Möglicherweise geht es etwas schneller, weil ich mit dem Tablet bereits das Foto aufnehmen kann, das ich in den Portfolioeintrag integrieren möchte. Eine weitere Veränderung kann darin bestehen, dass die Kinder die Schrift in den Portfolioeinträgen besser erkennen können, weil die getippte Schrift leichter zu entziffern ist. Stichwort Early Literacy*.“

Als Forscherin interessiert mich aber die Frage, wie sich möglicherweise auch die Inhalte verändern. In einer Studie konnten wir zeigen, dass zum Beispiel die Häufigkeit, in der Portfolioeinträge erstellt werden, im digitalen Kanal zunimmt. Ich frage mich: Wie wirkt sich das auf den Inhalt aus? Werden nun andere Themen bearbeitet, beispielsweise stärker alltägliche Situationen? Oder verlieren beispielsweise offene Portfolioeinträge, bei denen ein Foto mit einem freien Text ergänzt wird, an Bedeutung? Werden sie durch standardisierte Einträge ersetzt, bei denen nur noch ein Foto eingefügt werden muss und vorgegebene Textbausteine verwendet werden? Hier steht die Forschung jedoch weitgehend am Anfang.

Welchen Vor- und/oder Nachteil bringen Kita-Apps oder digitale Programme zur Dokumentation?

„Eine wesentliche Hoffnung der Digitalisierung von Bildungsdokumentationen besteht darin, dass die Fachkräfte Zeit sparen. Erste Studien zeigen auch, dass dies nach einer Einführungsphase oftmals der Fall ist. Ein weiterer Vorteil kann auch darin bestehen, dass es den Fachkräften leichter fällt, alle Kinder gleichmäßig im Blick zu behalten und die unterschiedlichen Bildungsthemen zu berücksichtigen. Eine wichtige Chance sehe ich auch in der Überwindung von Sprachbarrieren: Für Familien, die kein oder wenig Deutsch sprechen können Apps Übersetzungen anbieten.

In all diesen Punkten sind die technischen Möglichkeiten in aktuellen Apps sicher noch nicht ausgereizt.“

Sorgen bereitet mir die Gefahr, dass die Portfolioeinträge an Qualität verlieren und weniger auf die individuellen Bildungsprozesse der Kinder eingehen, als es notwendig wäre. Problematisch wäre es auch, wenn eine diagnostisch-bewertende Logik durch die Digitalisierung an Bedeutung gewinnt, bei der die Frage in den Vordergrund rückt, was ein Kind schon kann bzw. noch nicht kann.

„Erste Hinweise gibt es auch darauf, dass durch Kita-Apps eine Erwartungshaltung bei Eltern entsteht. Etwa die Erwartung, laufend Einblicke in den Kita-Alltag zu bekommen. Hierdurch kann zusätzlicher Stress bei den Fachkräften entstehen. Nachteile bestehen auch dann, wenn neue Hürden für die Kinder erwachsen, ihre Portfolios zu betrachten. Viele Einrichtungen drucken deshalb die Portfolios parallel zur digitalen Version aus. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass nicht alle Fachkräfte begeistert von Kita-Apps sind oder auch Hürden bei der Handhabung überwinden müssen.“

Wie kann man Skepsis gegenüber neuen digitalen Instrumenten entgegentreten und Kitas/Fachkräfte den Mehrwert aufzeigen?

„Hier ist es absolut notwendig, alle mitzunehmen. Skepsis hat ja oft gute Gründe, zum Beispiel die Sorge, dass man die neue Technik nicht bewältigen kann.  Skepsis kann aber auch daraus resultieren, dass Fachkräfte befürchten, mehr Zeit am Tablet zu verbringen, als mit den Kindern. Dann sollte man im Team überlegen, ob man die Dokumentations-Phasen zeitlich begrenzt. Kurzum: Es ist wichtig, die Befürchtungen ernst zu nehmen und als Ressource für die Verbesserung des Prozesses zu sehen.“

Es kann sinnvoll sein, die Nutzung einer App einfach mal auszuprobieren und zum Beispiel nach einem Jahr zu entschieden, ob man dabeibleiben möchte. Das nimmt Fachkräften und Teams den Druck und stellt eine spätere Entscheidung dann auch auf solide Füße.

*Early Literacy: Darunter versteht man im Allgemeinen die ersten Erfahrungen eines Kindes vor den ersten Lese- und Schreibversuchen mit der Schriftkultur einer Gesellschaft. (Kannengieser et al. 2013 in „Nashorner haben ein Horn: Sprachförderung in Spielgruppen und Kindertageseinrichtungen“)