Kinder mit besonderen Bedürfnissen und ihre Familien während der Corona-Pandemie

Andrea Milewski arbeitet als Kita-Leitung in der Inklusiven Kindertagesstätte Lauenburg/Elbe des Trägers WABE e.V. in Schleswig-Holstein. Die Kita gehört zu den Preisträgern des Deutschen Kita-Preises 2020. Die WABE-Kita legt ihren Fokus auf die Bedürfnisse der Kinder. Durch flexible Strukturen können die Kinder den Tag nach ihren Wünschen und Vorstellungen gestalten und sich frei entfalten. Während der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Auflagen konnte die Kita jedoch nicht mehr an ihrem offenen Konzept festhalten. Gemeinsam mit ihrem Team berichtet Andrea Milewski, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie insbesondere auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen und ihre Familie hatte. Dabei gibt das Kita-Team Einblicke in ihr Konzept der „Offenen Pädagogik der Achtsamkeit“. Sie erzählen, wie es ihnen auch während der Pandemie gelungen ist, die Bindung zu den Kindern und Familien aufrechtzuerhalten.

Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf Kindern mit besonderen Bedürfnissen und ihre Familien? Wo liegen die größten Herausforderungen?

„Jedes Kind hat besondere Bedürfnisse. Die Pandemie war und ist für alle Kinder eine Herausforderung. Inklusion bedeutet, dass allen Kindern die gleichen Möglichkeiten offenstehen, an Bildung teilzuhaben und ihre individuellen Potenziale zu entwickeln. Unabhängig von Lebenssituation, Lernbedürfnissen oder körperlichen Voraussetzungen. Inklusion bedeutet auch: Nicht jedes Kind muss alles können. Nicht jedes Kind muss alles lernen, um dazuzugehören. Unser Konzept der „Offenen Pädagogik der Achtsamkeit“ ist ein inklusives, auf das Kind ausgerichtetes Konzept. Kinder gehen ihren ureigenen Bedürfnissen und Interessen nach. Sie bestimmen ihre Spielpartnerinnen und Spielpartner selbständig. Sie suchen sich ihre Funktionsräume frei aus und wählen damit auch ihre Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner aus. In Zeiten der Corona-Pandemie war unser Konzept so vorübergehend nicht mehr umsetzbar. Durch die Hygiene- und Schutzmaßnahmen änderte sich die Situation grundlegend. Wir mussten von unserem offenen Konzept in die Gruppenpädagogik wechseln. Die Erzieherinnen und Erzieher mussten viel mehr vorgeben, zum Beispiel die maximale Anzahl der anwesenden Kinder in den jeweiligen Funktionsräumen, ihre Bezugspersonen und Spielpartnerinnen und Spielpartner. Die Fachkräfte mussten sehr darauf achten, dass die entsprechende Abstandsregeln im Raum und untereinander eingehalten wurden. Die Maßnahmen waren nachvollziehbar, widersprechen aber unserem pädagogischen Konzept. Auch für die Erzieherinnen und Erzieher war es ein ganz anderes Arbeiten.“

Welche Bedürfnisse haben die Kinder und Familien? Inwiefern kann auf diese während der Corona-Pandemie eingegangen werden?

„Die Bedürfnisse der Kinder und Familien standen und stehen für uns jederzeit an erster Stelle. Daher haben wir immer individuelle Lösungen erarbeitet. Dabei mussten wir uns in vielerlei Hinsicht umstellen, um die Auflagen zu erfüllen. Unsere Willkommenskultur begegnet den Familien bereits im Eingangsbereich der Kita: Hier begrüßen wir sie in zahlreichen Muttersprachen und heißen sie herzlich willkommen. Von Beginn an beziehen wir die Eltern in die Entwicklung ihrer Kinder ein. Schon im Erstgespräch erfragen wir ihre Wünsche und Erwartungen an die Kita. Der regelmäßige Austausch setzt sich auch im Anschluss der Eingewöhnung, bei Tür-und-Angel-Gesprächen, bei Feedback-Gesprächen sowie in den Übergabegesprächen fort. In unseren halbjährlich stattfindenden Elterngesprächen besprechen wir mit den Familien die Entwicklungsschritte ihrer Kinder. Bei unseren Kindern mit Förderbedarf werden auch die Therapeutinnen und Therapeuten von Beginn an miteinbezogen. Bei sozial schwächeren Familien ziehen wir die zuständigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Jugendhilfe hinzu. Vieles davon konnte während der Corona-Pandemie in regulärer Form nicht stattfinden. Wir tauschten uns deshalb telefonisch oder digital mit den Eltern aus. Wir sind sehr froh, dass wir wieder mehr Normalität in der Kita erleben dürfen und uns der eigentlichen pädagogischen Arbeit widmen können.“

Welche Unterstützungs- und (Früh-) Förderangebote gibt es während der Corona-Pandemie für Kinder mit besonderen Bedürfnissen und ihre Familien?

„Wir organisierten uns in zwei Betreuungsschichten mittels „Platz-Sharing“, um möglichst vielen Kindern eine Betreuungsmöglichkeit anzubieten. Wir stellten Mittagessen auch zur Abholung für Kinder bereit, die nicht in der Kita waren. Auch die Vorschulkinder haben die bestmöglichen Vorbereitungen auf den Übergang in die Schule in diesem neuen, vorübergehenden Betreuungsmodell erfahren. Zudem wurden für sie spezielle Mappen vorbereitet, die sie zuhause bearbeiten konnten. Durch die enge Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, wie beispielsweise dem Jugendamt, Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeutinnen und Therapeuten wurde uns ein eventuell bestehender familiärer Notstand rechtzeitig aufgezeigt. Darauf konnten wir dann zielgerecht mit unterstützenden Betreuungsangeboten reagieren. Zudem haben wir die „Kitapost“ von Kindern für Kinder initiiert, um den Kontakt aufrecht zu erhalten und die Kinder zuhause zu erreichen. Es ist ein „Corona-Buch“ mit dem Titel „Luna und Nico - Der verschobene Flug zum Mond“ rund um das Thema Pandemie entstanden."

Welche Erkenntnisse gibt es bereits zu Folgen der Corona-Pandemie für Kinder mit besonderen Bedürfnissen? Wie kann diesen begegnet werden?

„Diese Bewertung möchten wir Expertinnen und Experten überlassen. Nach Rückmeldungen der Eltern können wir jedoch sagen, dass die Kinder unsere pädagogische Arbeit und das Zusammensein sowie den Austausch mit gleichaltrigen Freundinnen und Freunden sehr vermisst haben. Kinder, die keinen Anspruch auf Betreuung hatten, haben dies ganz klar geäußert. Die Kinder vermissten auch unsere offene Pädagogik sehr. Sie wollten beispielsweise wie gewohnt selbständig entscheiden, mit wem und in welchen Raum sie spielen. Dies alles betraf nicht nur die Kinder mit besonderen Bedürfnissen, sondern alle Kinder und auch unser gesamtes pädagogisches Personal.“