Sprachbildung in Zeiten von Corona

Beate Hamilton-Kohn ist Diplom-Pädagogin und arbeitete 20 Jahre als Kita-Fachberaterin auf kommunaler Ebene. Auf Landesebene arbeitete sie unter anderem beim Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Seit zehn Jahren leitet Beate Hamilton-Kohn das DialogWerk Braunschweig. Dieses bietet Kitas eine engmaschige Unterstützung bei der Umsetzung des Sprachbildungs- und Sprachförderungsauftrags des Landes Niedersachsen. Während der Corona-Pandemie unterstützte das DialogWerk die Kitas mit Begleitstrukturen, unter anderem um Sprachförderangebote auch während der coronabedingten Kontaktbeschränkungen aufrecht zu erhalten.

Warum ist es wichtig, bei der Sprachbildung von Kindern gerade ganz genau hinzusehen?

„Von allen Seiten kommen Warnhinweise und ich finde, die müssen gehört werden! Jetzt ist die Zeit, um genau hinzusehen, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Sprachentwicklung bei Kindern hat. Sie hat beispielsweise unterschiedlichen Sprachstände bei den Kindern verstärkt. Es braucht gute Analysen, aus denen wir Erkenntnisse für die kommenden Jahre ziehen können. Ich habe sonst Sorge, dass die Unterschiede nur schwer ausgeglichen werden können."

Inwiefern wirken sich Kitaschließungen, Quarantäne und Notbetreuung auf die Sprachbildung der Kinder aus?

„Diese Frage lässt sich nicht allgemein beantworten, da die Kita-Landschaft sehr heterogen ist. Die verschiedenen Träger sind mit der Corona-Pandemie unterschiedlich umgegangen. Wir haben in mehreren Telefonabfragen die Stimmungsbilder der Kitas in Braunschweig eingefangen. Einige Fachkräfte meldeten uns zurück, dass sie während der Notbetreuung viel mehr Zeit für Sprachbildungsangebote als im Regelbetrieb hatten. Die Fachkräfte konnten sich individuell in kleinen Gruppen mit den Kindern auseinandersetzen. Das gilt nur für die Kinder, die die Notbetreuung in Anspruch nehmen konnten. Diesen ging es zum Großteil wirklich gut! Für die Kinder zuhause fanden Angebote zur Sprachbildung nur dann statt, wenn die Einrichtungen mit den Familien in analogen oder digitalen Austausch kamen: über Gespräche im Fenster, Telefonate, Post, Bücherkisten oder digitale Angebote. Einige Einrichtungen sind sehr kreativ geworden und konnten Sprachbildungsangebote trotz der coronabedingten Kontaktbeschränkungen aufrechterhalten. Diese sind von der Infrastruktur, den Ressourcen und der Haltung der Fachkraft, den Vorgaben des Trägers und der Zusammensetzung der Einrichtung abhängig. Vielerorts hat die Corona-Pandemie aber auch die Sprachbildung stark eingeschränkt. Die gruppenübergreifende Arbeit ist in vielen Einrichtungen aufgrund der Hygieneauflagen nicht mehr möglich. Da der Bewegungs- und Erlebnisspielraum von Kindern eingeschränkt ist, verringert sich auch der sprachliche Spielraum der Kinder. Einige Einrichtungen haben die Türen auch weitestgehend verschlossen und keinerlei Angebote gemacht. Wenn das familiäre Umfeld diese Bildungslücke nicht kompensieren konnte, haben die Kinder in den vergangenen Monaten teilweise große Rückschritte in ihrer Sprachentwicklung gemacht.“

Welche Kinder sind von diesen Auswirkungen besonders betroffen?

„Wir wissen, dass besonders zurückhaltende Familien seltener von Angeboten in der Notbetreuung profitierten. Vor allem Familien, die unsicher waren, ob ihr Kind einen Anspruch auf Notbetreuung hat, haben ihre Kinder eher Zuhause behalten. Darunter sind viele Familien, in denen Deutsch nicht die Familiensprache ist. Die Kinder waren teilweise monatelang nicht in der Kita und wir wissen, dass in dieser Zeit niemand mit den Kindern Deutsch gesprochen hat. Daraus darf man den Eltern keinen Vorwurf machen. Die Familiensprache sollte innerhalb der Familie bleiben. Mehrsprachigkeit muss gefördert werden. Nicht die Familien, sondern wir sind dafür verantwortlich, dass der Kontakt der Kinder zur Bildungssprache Deutsch nicht abreißt. Leider ist dieser bei vielen Kindern abgerissen, da ist nichts mehr passiert!“

Was benötigen Kitas und Familien für die Sprachförderung?

„Für die Sprachförderung braucht es eine professionelle Haltung, eine gute Infrastruktur und ein Verständnis davon, was Sprachförderung ist. Kitas brauchen gute Begleitstrukturen und Reflexionsmöglichkeiten. Trägerübergreifende Strukturen und eine gute Zusammenarbeit der Träger untereinander können dabei zusätzlich helfen. All die Förder- und Nachholprogramme, die auf den Weg gebracht werden, sind wichtig. Die Angebote müssen allerdings auch alle Familien erreichen! Hier braucht es unter anderem Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie Informationen in leichter Sprache, damit vor allem Familien, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, von den Angeboten erfahren. Sprachförderung kann erst dort beginnen, wo wirklich alle Familien erreicht werden! Auf viele Fragen müssen nun zeitnah Antworten gefunden werden: Wie können wir sicherstellen, dass alle Kinder in Kontakt mit dem deutschsprachigen Umfeld bleiben? Dass über Sozialraumorientierung Vernetzungen vor Ort stattfinden, in die die Kinder eingebunden werden? Wie können Kooperationen zwischen Kitas und Büchereien entstehen? Mit welcher Sprachkompetenzerfassung können wir den Sprachförderbedarf bei Kindern für welches Alter erheben? Wie können Fachkräfte dabei unterstützt werden? Die bestehenden Instrumente zur Sprachkompetenzerfassung im Kita-Bereich sind sehr umfangreich. Die Fachkräfte sind bereits voll ausgelastet. Vor allem bei den Vorschulkindern ist es wichtig, dass eine Sprachkompetenzerfassung für den Übergang in die Grundschule erfolgt. Die Sprachkompetenzerhebung muss immer als Ausgangspunkt von nachfolgenden Interventionen verstanden werden. Fachkräfte müssen auf den Vorerfahrungen der Kinder aufbauen, um sie in ihrem Spracherwerb unterstützen zu können. Diese wichtigen Erhebungen dürfen nicht coronabedingt ausfallen.“