Interview mit einer Fachberaterin zum Kinderschutz im Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen

Kinderschutz ohne Eltern funktioniert einfach nicht.

Interview mit einer Fachberaterin zum Kinderschutz im Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen

Johanna Nolte ist Fachberaterin beim Verband evangelischer Kindertageseinrichtungen (VEK). Sie hat das „Handbuch Kinderschutz“ entwickelt. Im Interview spricht sie über Kinderschutz im Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen.

Kinderschutz unter Pandemiebedingungen: Was ist dabei besonders wichtig?

Von einem ‚Wie-vorher-Betrieb‘ in der Kindertagesbetreuung können wir vorerst nicht sprechen. Sowohl auf Ebene der Familien als auch auf Ebene der Fachkräfte müssen viele neue und als schwierig erlebte Situationen neu bewertet werden. Kinderschutz unter diesen Bedingungen bedeutet vor allem, genau hinzuhören und wahrzunehmen, wie sich die Situation der Kinder verändert hat oder jetzt gestaltet ist.

Kita-Leitungen können gemeinsam mit Kindern, Fachkräften und Eltern reflektieren: Was haben die Kinder im Lockdown und danach erlebt? Wie ist die Situation zuhause? Welche Ängste auf allen Seiten stehen im Raum? Das Wegfallen von sozialen Kontakten, Berufstätigkeit, Angst vor Infektion und räumliche Beschränkungen waren und sind schwierige Bedingungen für Familien. Jetzt müssen Elternbefragungen und Elterngespräche stattfinden, um überhaupt wieder in Kontakt zu kommen. Sonst werden wir auf alte Einschätzungen zurückgreifen, die sich inzwischen aber völlig verändert haben können, so wie sich während der Pandemie vieles verändert hat.

Wichtig ist auch, dass wir Kinderschutz genau in dieser Phase auch auf uns selbst beziehen. Kinderschutz im Kontakt mit Eltern und Kindern ist die eine Seite. Die andere Seite ist, sich wirklich intensiv mit der eigenen Rolle und dem Verständnis von Kita auseinanderzusetzen – mit Blick auf das Schutzkonzept – und sensibel zu handeln."

Welche konkreten Tipps und Anregungen haben Sie für Kitas und Tagespflegepersonen, die sich dem Thema Kinderschutz jetzt widmen möchten?

Reflexionszeiten sind jetzt besonders wichtig: für die Fachkräfte im Team, in Gesprächen mit den Kindern und Eltern. Es geht um eine Neubewertung: Warum tun wir das als Team gerade so, oder so? Wie geht es allen? Welche Bedingungen braucht wer, um einen sicheren Stand im Alltag zu haben?

Gespräche mit Kindern über deren Sicht auf die Pandemie sind dabei ebenso kinderschutzrelevant wie Gespräche mit Eltern zu deren Erlebnissen, Wahrnehmungen und Belastungen. Wichtig ist, nicht zu versuchen, das letzte halbe Jahr aufzuholen, sondern den Blick nach vorne zu richten. Und zwar unter Bedingungen, die jetzt noch nicht klar sind.

Es gibt viele Fragen: Was bedeutet es zum Beispiel, Kinder in festen Gruppen zu betreuen, die eigentlich offene Strukturen gewohnt waren? Wo werden Übergänge auf einmal anders gestaltet? Inwiefern gehören Fachkräfte zu einer Risikogruppe? Darauf muss ein Fokus liegen. Die Schutzkonzepte sind jetzt wichtiger denn je. In vielen Kitas wurde während des Lockdowns sehr intensiv gearbeitet, auch am Thema Schutzkonzept. Jetzt geht es darum, die Ergebnisse zu sichern und gemeinsam im Team zu implementieren. 

Es geht darum, Ruhe zu bewahren und sich selbst wieder gut aufzustellen. Sowohl als einzelne Fachkraft, aber auch im Team. Die Kitas sind herausgefordert, den Kinderschutz mehr denn je in den Blick zu nehmen - trotz eines Infektionsgeschehens, das nicht überblickt werden kann. Das bedeutet: Infektionsschutz vor Konzept, aber Kindeswohl vor Infektionsschutz."

Was können Kitas noch tun, um den Kinderschutz zu stärken?

Leitungen, Träger und Fachkräfte sollten unbedingt in den Austausch kommen. Die Kitas sollten sich Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner suchen, Beratung einholen und andere finden, die in einer ähnlichen Situation sind. Denn die Kitas waren in der Corona-Zeit in völlig unterschiedlichen Situationen. Es gab Kitas, die keine Notbetreuung anbieten mussten, andere hatten innerhalb kürzester Zeit fünf Notbetreuungsgruppen. Für Fachkräfte und Kinder war und ist die Unsicherheit hoch. Wichtig ist deshalb, sich über den eigenen Auftrag zu vergewissern: Ein guter Ort für Kinder und Eltern zu sein, gute Beziehungen aller Akteurinnen und Akteure sicherzustellen und eine eigene professionelle Grundhaltung zu haben, die es möglich macht, gut für sich zu sorgen.

Wichtig ist trotz neuer Corona-Verordnungen und Vorgaben immer wieder zurückzutreten und sich zu vergewissern: ‚Es geht hier um die Kinder. Wie schützen wir uns alle und schaffen eine gute Situation für die Kinder?"

Was nehmen Sie aus der Corona-Pandemie für den Kinderschutz mit?

Ich habe mich immer wieder gefragt, wie Kinderschutz auch digital und kontaktlos aussehen kann. Welche Möglichkeiten gibt es bereits, um in so einer Situation wie jetzt noch handlungsfähiger zu sein? Zum Beispiel für die Gespräche mit Eltern, den Austausch im Team, die Erarbeitung von Schutzkonzepten oder digitale Portfolios. Kita-Apps, Videokonferenzen, Notfalltelefone - was ist sinnvoll? Es gibt zum Beispiel Kita-Leitungen, die eine Notruf-Hotline geschaltet haben. Alle Familien, die in Not sind, konnten dort anrufen.

Viele Kitas haben sich sehr viel Mühe gegeben, für Eltern und Kindern Beschäftigungs- und Aktionsangebote bereitzustellen. Die individuelle Situation der Familien geriet dabei manchmal aus dem Blick. Kleine persönliche, telefonische oder briefliche Kontakte oder konkrete Angebote für Eltern, die die Kinder selbst durchführen konnten – zum Beispiel digitale Vorleserunden – waren aus Kinderschutzsicht sehr wertvoll und für bestimmte Familien mehr als nur Angebote zur gemeinsamen Beschäftigung.

Sehr eindrücklich war in der Zeit des Lockdowns zum Teil die Sicht der Fachkräfte auf die Eltern. Wer ist ‚wirklich‘ systemrelevant? Wer will sich ‚reindrängeln‘? Wer wertschätzt die Arbeit in den Einrichtungen? ‚Die Eltern sind doch zu Hause im Homeoffice und können ihr Kind betreuen‘ ist nur eine Aussage, die oft Thema war. Das finde ich unter Kinderschutzgesichtspunkten sehr schwierig. Denn die Belastungssituation der Eltern bedeutet auch eine direkte Belastungssituation für die Kinder. Wenn ich die Wertschätzung und das Vertrauen in die Eltern nicht mehr habe und nicht mehr davon ausgehe, dass sie das Beste für ihr Kind tun - in dem Moment habe ich auch keinen Blick mehr dafür, was in der Familie passiert. Kinderschutz ohne Eltern funktioniert einfach nicht.

Ein Ergebnis der Corona-Zeit ist, dass Kita mindestens so sehr ein System für Eltern ist als für die Kinder. Die Systemrelevanz bedeutete vor allem eine Relevanz der Kinderbetreuung. Dies hat große Auswirkungen auf das Verständnis von Kinderschutz sowie Kita als Bildungseinrichtung."

Download

PDF zum Speichern und Drucken (nicht barrierefrei)