Experteninterview zu psychologischen Belastungen für Kinder während der Corona-Pandemie
Prof. Dr. Michael Kölch ist Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsmedizin Rostock. Im Interview erklärt er, wie die Corona-Pandemie auf die Psyche von Kindern wirkt, woran man psychische Belastungen erkennt und wie sich Eltern und Fachkräfte auf „die Zeit nach Corona“ vorbereiten können.
Wie sehr belastet die anhaltende Corona-Pandemie die Psyche von Kindern und was genau belastet sie?
„Die Corona-Pandemie an sich selbst belastet die Kinder nicht primär, sondern vielmehr die notwendigen Maßnahmen und Einschränkungen, die ergriffen werden müssen wie der Wechselunterricht in der Schule oder die Notbetreuung in der Kita. Dies sind wichtige Orte der Sozialisation, wo sich Kinder begegnen, kennenlernen und austauschen. Hinzu kommen Einschränkungen in der Freizeit. Sportvereine fallen weg, Musikunterrichte fallen aus. In größeren Gruppen andere zu treffen und gemeinsame Unternehmungen zu machen, sind Dinge, die zum Aufwachsen dazugehören. Es gibt aber noch einen anderen belastenden Aspekt, der häufig unterschätzt wird: Menschen sind zum Teil schwer erkrankt und auch gestorben, insbesondere in der ersten Phase der Pandemie. Wenn Kinder und Jugendliche Erfahrungen mit schweren Krankheitsverläufen oder dem Tod gemacht haben, belastet sie das natürlich auch. Darüber hinaus gibt es viele individuelle Rahmenbedingungen, die belasten können, wie beispielsweise beengte Wohnverhältnisse oder Probleme in der Familie.“
Welche Kinder sind besonders belastet?
„Das gestaltet sich sehr unterschiedlich. Beispielsweise kann es ein Kleinkind im Alter von ein bis zwei Jahren positiv empfinden, wenn die Eltern den ganzen Tag im Homeoffice sind. Ältere Kinder und Jugendliche nutzen häufiger soziale Medien und können damit zum Teil den Kontaktausfall ausgleichen. Es gibt aber auch Kinder mit psychischen Belastungen, die besonders unter den Maßnahmen leiden. Dazu gehört zum Beispiel ein Kind mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), das sich ohnehin schwer strukturieren kann. Und es gibt Kinder mit sozialen oder familiären Problemen, die generell etwas mehr Unterstützung beim Lernen brauchen. Diese Kinder leiden sehr, da viele Unterstützungsstrukturen nicht mehr gegeben sind und nun zuhause kompensiert werden müssen. So können in den Familien schnell Überforderungssituationen entstehen. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen brauchen jetzt besondere Aufmerksamkeit. Oft sind sie sehr isoliert. Auch hier können Familien aufgrund der vielfältigen Belastungen und Aufwände schnell in Überforderung rutschen.“
Inwiefern werden die Belastungen bei Kindern sichtbar?
„Belastungen werden wie bei Erwachsenen sichtbar: Man ist nicht mehr so gut gelaunt, wie man es vielleicht sonst ist. Man ist gereizter, weinerlicher und trauriger, aber auch nervöser oder hyperaktiver. Das sind typische Anzeichen, wenn man nicht ausgeglichen ist. Dazu können dann noch Lust- und Antriebslosigkeit kommen sowie ein allgemeines Belastungsgefühl. Kinder sagen zwar nicht, dass sie sich belastet fühlen, aber sie können durchaus formulieren, dass sie häufiger wütend oder traurig sind.“
Inwiefern verändert sich ihr Verhalten? Welches Verhalten ist aus psychologischer Sicht bedenklich?
„Wir haben eine enorme Zunahme an Mediengebrauch, auch von Kindern und Jugendlichen. Homeschooling oder Kinderbetreuung im Homeoffice fördern dies mitunter. Wenn die Kontaktmöglichkeiten wegfallen, kann man den vermehrten Medienkonsum gut nachvollziehen. Dies kann zu einem veränderten Tag-Nacht-Rhythmus führen, wenn Kinder morgens nicht in die Kita oder in die Schule müssen. Zum anderen kann es die Lernmotivation verändern, das Gefühl der Sinnlosigkeit oder vermehrte Gereiztheit können entstehen. Bedenklich ist es immer dann, wenn das veränderte Verhalten beständig und dauerhaft wird. Schwankungen gehören zum normalen Leben dazu. Aber wenn es sich dauerhaft verändert, gedrückte Stimmung und Freudlosigkeit dominieren, wird es bedenklich. Dann sollte man sich Hilfe suchen.“
Wie können Eltern und Fachkräfte die Kinder auf „die Zeit nach Corona“ vorbereiten? Welche Ansätze gibt es? Worauf gilt es dabei zu achten?
„Ich würde zwischen Eltern und Fachkräften trennen. Wichtig ist, dass Eltern den Übergang in die Normalität gestalten wie beispielsweise Freizeitaktivitäten aufnehmen oder Freunde treffen. Es ist wichtig, wieder zu einem geregeltem Rhythmus zu gelangen mit klaren Zubettgehzeiten oder Zeiten für Hausaufgaben. In der Kita oder Schule gilt es dann gemeinsam mit den Fachkräften zu beobachten, ob es klappt.
Es wird künftig nicht das Ziel sein, alles Versäumte einfach von heute auf morgen aufzuholen, sondern flexibel zu schauen, ob Kinder Defizite entwickelt haben und wie diese ausgeglichen werden können. Oftmals sind dieselben benachteiligten Gruppen in der Gesellschaft betroffen. Da müssen wir seitens der Fachkräfte und Institutionen stärker drauf achten, dass diese Kinder durch die Pandemie nicht noch weiter abgehängt werden. Besonders bei sozial zurückgezogenen oder benachteiligten Kindern muss man gemeinsam schauen, wie man sie wieder einbinden kann – zum Beispiel mit Unterstützung von Kitas, Schulen, Vereinen oder der Kinder- und Jugendhilfe.
Manche werden aber auch Kompetenzen entwickelt haben. Ich glaube, viele Kinder wurden in dem vergangenen Jahr vor ganz große Aufgaben gestellt und haben diese auch gemeistert – beispielweise was die Selbststrukturierung beim Lernen oder Spielen angeht.“
Wo finden Eltern und Fachkräfte gute Anlaufstellen oder Unterstützung bei Unsicherheiten?
„Vor allem in der ersten Phase der Pandemie mussten sich die unterstützenden Strukturen und Institutionen neu organisieren und aufstellen. Mittlerweile sind alle erfahrener geworden im Umgang mit der Pandemie und es gibt viele gute und niedrigschwellige Anlaufstellen wie Familien- und Erziehungsberatungsstellen, zu denen man persönlich oder auch telefonisch Kontakt aufnehmen kann. Wenn es sich um massivere psychische Probleme handelt und man sich Sorgen macht, gibt es niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten sowie die Klinikambulanzen, die immer offen haben. Manchmal braucht es eine diagnostische Einschätzung, manchmal reicht schon ein Beratungsgespräch. Hier gibt es ein gutes Hilfenetz, das auch schon vor der Corona-Pandemie da war.“