Portrait Kita Berzeliusstraße
„Ich habe in der Kita die ganze Welt kennengelernt“
Die Kita Berzeliusstraße der Elbkinder in Hamburg hat einen besonderen Standort: Sie liegt zwischen zwei Wohnunterkünften für Asylsuchende, in denen insgesamt fast 1500 Menschen leben.
Aktuell besuchen 70 Kinder die Kita, fast alle haben einen Migrationshintergrund. Die Hälfte der Kinder kam als Flüchtling nach Deutschland.
Vertrauen als Grundlage
„Die Arbeit mit Familien und Kindern mit Fluchthintergrund ist anders und betreuungsintensiver. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die Familien kennen unser Kita-System und unsere Sprache nicht“, erklärt Kita-Leiterin Janina Seifert. Die ersten Wochen und manchmal Monate können daher anstrengend für die Kinder und das Kita-Team sein. Sobald die Kinder jedoch eingewöhnt sind, gestaltet sich der Kita-Alltag wie in jeder anderen Kita.
„Später gibt es im Vergleich zu Kindern ohne Fluchthintergrund dann eigentlich keine Besonderheiten. Für uns ist jedes Kind ein Kind“, betont Janina Seifert. „Unsere Hauptaufgabe sehen wir darin, den Kindern eine sichere Bindung zu geben und ihnen den Tagesablauf und die Rituale zu vermitteln.“ Erst wenn sich ein Kind sicher fühlt, kann es sich entfalten. Vertrauen bildet hierfür eine wichtige Grundlage. Dies gilt auch für Kinder ohne Fluchthintergrund. „Bei Kindern mit Fluchthintergrund ist es nur noch ein bisschen wichtiger.“
Eine Herausforderung in der Betreuung der Kinder mit Fluchthintergrund ist vor allem die hohe Fluktuation. „Familien, die neu in die Wohnunterkunft eingezogen sind, leben ein halbes Jahr später vielleicht schon in einer eigenen Wohnung oder wurden ausgewiesen“, erklärt die Kita-Leiterin. Die Warteliste der Kita wächst dadurch stetig. „Es ist sehr wichtig, die Kinder schnell in die Kita aufzunehmen. Nur dann können die Eltern zum Beispiel einen Deutschkurs besuchen.“
Der Schritt in die Kita
Um den Eltern den Schritt in die Kita zu erleichtern, arbeitet die Kita Berzeliusstraße eng mit dem Träger der angrenzenden Wohnunterkünfte zusammen. „Die Eltern müssen nur einmal über die Straße gehen. Es läuft alles über Mund-zu-Mund-Propaganda“, berichtet Janina Seifert.
Wenn Kitas zum ersten Mal mit Flüchtlingsfamilien in Kontakt kommen, rät sie, den Familien so freundlich und wertschätzend wie möglich entgegenzutreten: „Die nonverbale Kommunikation ist das A und O. Sie sorgt dafür, dass sich die Eltern in der Kita wohl und willkommen fühlen.“
Die Eingewöhnung muss sehr flexibel und sensibel erfolgen. „Die Kinder und wir sind keine Roboter. Bei der Eingewöhnung muss es allen gut gehen – den Kindern, den Eltern, den Kindern die schon da sind und den Erzieherinnen und Erziehern“, betont Janina Seifert.
Zusammenarbeit mit den Familien
„Eine Kita sollte viel mit den Eltern kommunizieren, nachfragen und ehrliches Interesse zeigen“, weiß Janina Seifert, „Sie sollte gegenüber den Eltern, ihrem Erziehungsstil und der Erziehungskultur empathisch und offen sein.“ Die Eltern nimmt die Kita als Experten für ihre Kinder ernst und entwickelt eine Erziehungspartnerschaft. In der alltäglichen Elternarbeit geht es dabei oft um Kompromisse: Die Kita muss akzeptieren, dass die Eltern andere Werte und moralische Maßstäbe haben. Dafür müssen die Eltern die Regeln und das Leitbild der Kita akzeptieren. „Eine Mutter hat zum Beispiel gefragt, ob wir Halāl-Fleisch anbieten können. Das war ihr ein großes Anliegen“, erläutert Janina Seifert, „ konnten diesen Wunsch nicht erfüllen.“ Selbstverständlich wird aber darauf geachtet, dass ihr Kind kein Schwein isst. Es gibt viele kleine Ideen, die dabei helfen, das Vertrauen der Eltern aufzubauen. Die Kita Berzeliusstraße erstellt zum Beispiel den Essensplan in Bildern. „Wir haben festgestellt, dass die Eltern sehr gerne wissen möchten, was ihr Kind in der Kita isst“, erklärt sie. Die Bilder erstellt die Kita selbst.
Statt Elternabende gibt es in der Kita Berzeliusstraße Elternnachmittage. Die Kinder werden parallel betreut. „Unsere Eltern haben in der Regel keinen Babysitter, also geht es nur nachmittags“, weiß Janina Seifert. Das Kita-Team gestaltet die Elternnachmittage mit Bildern und Videos. „Bilder sagen mehr als 1000 Worte“, betont sie.
Für die Zusammenarbeit mit den Eltern nutzt die Kita-Leiterin Janina Seifert vor allem die kostenfreie Broschüre „Ein Kitaplatz für unser Kind“ der Stadt Hamburg. Sie ist sehr niedrigschwellig aufgebaut und erklärt in verschiedenen Sprachen und mit Bildern, was eine Kita ist, welche Rechte Eltern haben, was ein Kitaplatz kostet oder wie man ihn beantragt. „Diese Broschüre ist sehr hilfreich für mich, da ich den Eltern dort zeigen kann, welche Dokumente ich von ihnen brauche“, erklärt sie.
Sprachbarrieren überwinden
In der Kita Berzeliusstraße sprechen nur drei Kinder Deutsch als Muttersprache. „Alle anderen Kinder haben andere Muttersprachen und kommen in der Kita vielleicht zum ersten Mal mit Deutsch in Berührung“, berichtet Janina Seifert. Sobald die Kinder in der Kita sind, lernen sie jedoch sehr schnell Deutsch.
Kita-Leiterin Janina Seifert rät, alle Kinder für Sprachbarrieren zu sensibilisieren. Kitas können zum Beispiel einen Morgenkreis in einer anderen Sprache gestalten. „Die deutschsprachigen Kinder können dann besser nachempfinden, wie sich ein Kind fühlt, das kein Deutsch spricht“, erklärt sie.
Herausfordernd sind die Sprachbarrieren vor allem bei der Zusammenarbeit mit den Eltern. Die wichtigsten Inhalte vermittelt Janina Seifert mit Hilfe von Übersetzungs-Apps, auf Englisch, mit Dolmetscherinnen und Dolmetschern oder Kolleginnen und Kollegen, die übersetzen können. Tiefergehende Informationen, wie das pädagogische Konzept der Einrichtung, können auf diese Weise aber nur schlecht vermittelt werden.
Umgang mit traumatisierten Kindern
„Wir unterstellen nicht jedem Kind mit Fluchthintergrund automatisch eine Traumatisierung und nicht jedes Kind benötigt eine Traumatherapie“, sagt Kita-Leiterin Janina Seifert. Die Fluchterfahrung und die Fluchtwege der Kinder sind sehr unterschiedlich. Bei einigen verläuft die Flucht ohne Probleme sehr schnell, bei anderen erstreckt sie sich über mehrere Monate.
Wenn Kinder traumatisiert sind, ist es zunächst wichtig, eine Bindung zu den Kindern aufzubauen und ihnen Sicherheit zu geben. „Man sollte sensibel bleiben und die Kinder beobachten“, weiß Janina Seifert. „Wir haben hier keine Kinder, die unter dem Tisch sitzen, wenn ein Flugzeug vorbeifliegt oder ein Luftballon knallt.“ Ein Trauma kann sich in vielen Facetten zeigen. Manchmal kann die Ursache für das Verhalten der Kinder auch andere Ursachen haben. Beim Aufnahmegespräch fragt die Kita-Leiterin die Eltern, wie die Flucht verlaufen ist. Die Eltern sollen einschätzen, ob das Kind seitdem Probleme hat oder Verhaltensweisen zeigt, die sie sich nicht erklären können. „Falls es dann Situationen in der Kita gibt, die bei dem Kind eine bestimmte Erinnerung hervorrufen, können wir das besser einschätzen“, erklärt Janina Seifert. Das Kita-Team sollte sich austauschen, um die Situationen sicher einschätzen zu können.
Ideen für die pädagogische Arbeit
Die Kita Berzeliusstraße nutzt viele Bücher für die pädagogische Arbeit. Die Kita-Leiterin empfiehlt Bücher in Lautsprache, die man einem Kind in seiner Sprache vorlesen kann, ohne die Sprache selbst beherrschen zu müssen.
In Vorlesenachmittagen können die Eltern niedrigschwellig in den Kita-Alltag eingebunden werden. „Ein Buch kann zum Beispiel von der Erzieherin auf Deutsch und von einem Vater auf Arabisch vorgelesen werden“, empfiehlt sie.
Die Erzieherinnen und Erzieher sollten jedoch nicht zu akribisch planen: „In der Betreuung von Kindern muss man sehr spontan und flexibel sein, denn meistens kommt alles anders. Eine zu genaue Planung kann dann auch schnell frustrieren“, weiß Janina Seifert.
Sich auf das Wesentliche konzentrieren
„Für mich persönlich hat sich viel verändert, seitdem wir Kinder mit Fluchthintergrund betreuen. Ich habe viel über andere Kulturen und den Islam erfahren und in der Kita die ganze Welt kennengelernt“, erzählt Janina Seifert. Ein Kita-Team sollte eine gewisse Gelassenheit entwickeln und auf seine Fähigkeiten vertrauen. Wichtig sei es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – die Kinder und die Kita.