Portrait Kindertagespflege WeltWeitWindprecht

„Kleinkindarbeit braucht feste Bezugspersonen und klare Strukturen“

In der Familienunterkunft für Asylsuchende in der Augsburger Windprechtstraße gibt es eine Besonderheit: Hier betreut und fördert der qualifizierte Tagesvater Tobias Hartmann gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen bis zu acht Kinder, während ihre Eltern einen Deutsch- oder Integrationskurs besuchen. 

Bereits 2013 entwickelte Tobias Hartmann mit einer Kollegin die Idee für die Großtagespflegestelle: „Wir haben uns vorher schon mit Projekten für die Betreuung von Kindern mit Fluchthintergrund engagiert, aber gerade die Kleinkindarbeit braucht feste Bezugspersonen und klare Strukturen.“ Deshalb entstand unter der Trägerschaft des Diakonischen Werkes Augsburg in Kooperation mit der Stadt Augsburg, der Agentur für Kindertagespflege (agita) sowie dem Kinderschutzbund Augsburg das Betreuungsangebot für Kinder in der Gemeinschaftsunterkunft.

Kinder brauchen Schutz und Geborgenheit

„Wenn die Kinder zu uns kommen, benötigen sie zunächst eine sichere Umgebung in der Nähe ihrer Eltern“, weiß der Leiter Tobias Hartmann, „wir schaffen Schutz und Geborgenheit, das kann vor allem in unserem kleinen Rahmen der Tagespflege geschehen.“ Rituale und ein regelmäßiger Tagesablauf erleichtern den Kindern die Eingewöhnung. In der Tagespflegestelle können die Kinder die Welt entdecken, Kontakt zu Gleichaltrigen knüpfen und spielerisch erste deutsche Sprachkenntnisse erwerben.  

Um die besonderen Bedarfe von Kindern mit Fluchthintergrund zu erkennen, hat Tobias Hartmann Fortbildungen zum Thema Traumapädagogik besucht: „In manchen Fällen kann das Bindungsverhalten durch ein Fluchterlebnis gestört sein, zum Beispiel wenn die Kinder einer Gefahr ausgesetzt oder sie länger von ihren Eltern getrennt waren. Auch in der Gemeinschaftsunterkunft können Probleme auftreten. Es ist wichtig zu verstehen, woher das Trauma kommt und was jedes einzelne Kind braucht.“ Einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tagespflegestelle haben selbst Fluchterfahrungen gemacht und können den Kindern mit einer besonderen Sensibilität begegnen.

Perspektive Tagespflege

Tobias Hartmann hält immer Ausschau nach geeigneten Frauen und Männern, die in der Gemeinschaftsunterkunft in der Windprechtstraße wohnen und gerne mit Kindern arbeiten würden oder auch schon in ihrer Heimat mit Kindern gearbeitet haben. Wenn sie ausreichend Deutschkenntnisse haben, vermittelt er ihnen einen Qualifizierungskurs für Kindertagespflegepersonen. Im Rahmen gemeinnütziger Tätigkeiten können sie in der Tagespflegestelle mitarbeiten. Zum einen verdienen sie so etwas Geld, aber viel wichtiger ist, dass sie bereits während ihrer laufenden Asylverfahren in der Gesellschaft aktiv werden. Eine angestellte Tagesmutter war selbst Asylbewerberin und arbeitet nun mit Aufenthaltserlaubnis in der Tagespflegestelle. Diese Tagesmütter und Tagesväter sind als Sprach- und Kulturmittler sehr wertvoll. 

Zusammenarbeit mit den Familien

Besonders wichtig ist dem Leiter der Tagespflegestelle die Zusammenarbeit mit den Familien: „Wir begleiten die Familien von Anfang an wenn sie hier ankommen, deswegen kennen sie auch unser Angebot“, erklärt Tobias Hartmann. Er ergänzt: „Häufig kommen die Familien jedoch aus einer völlig anderen Kultur und kennen unser Bildungssystem nicht.“ Hier klären Hartmann und seine Kolleginnen und Kollegen auf und schaffen eine vertrauensvolle Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Sprachliche Herausforderungen lösen die Tagespflegepersonen vor allem mit Hilfe von Kolleginnen und Kollegen sowie Bewohnerinnen und Bewohnern der Gemeinschaftsunterkunft, die schon bessere Deutschkenntnisse haben.

Die Großtagespflegestelle als Übergang in den Regelkindergarten

Die meisten Kinder in der Tagespflegestelle sind unter drei Jahre alt. Aber auch ältere Kinder sind willkommen, denn in Augsburg sind die Anmeldefristen für einen Kitaplatz im September bereits am Jahresanfang. „Viele Familien kommen jedoch zu anderen Zeiten des Jahres in Deutschland an“, erklärt Tobias Hartmann, „damit kein langer Leerlauf entsteht, überbrücken wir die Zeit bis ein Platz im Regelkindergarten bereit steht.“ Um den Übergang vorzubereiten und Vorfreude zu wecken, besuchen die Kinder regelmäßig die umliegenden Kindergärten. Außerdem kommt eine Erzieherin aus dem Kindergarten in die Großtagespflegestelle. So können die Kinder sie bereits kennenlernen und sich mit den Abläufen im Kindergarten vertraut machen. Auch für die Eltern ist der Übergang in den Kindergarten ein wichtiger Schritt. 

Integration durch Vernetzung

Die Großtagespflegestelle arbeitet gut vernetzt, um den Familien Begegnungen außerhalb der Gemeinschaftsunterkunft zu ermöglichen: Mit dem angrenzenden Seniorenwohnheim pflegen sie einen gemeinsamen Garten, Ehrenamtliche besuchen die Tagespflegestelle und benachbarte Familien kommen zu Festen. Außerdem bieten Studierende der Universität Augsburg musikalische Früherziehung an.

Jedes Kind hat ein Recht auf gute Bildung und Betreuung

In manchen Situationen wünscht sich Tobias Hartmann eine bessere finanzielle Ausstattung: „Wenn wir einen Ausflug planen, müssen wir zum Beispiel immer überlegen, wie wir die Bustickets bezahlen können.“ Bastelmaterialien und Spielsachen werden oft gespendet. Der Tagesvater wünscht sich, dass auch in anderen Gemeinschaftsunterkünften Betreuungsangebote geschaffen werden, damit alle Kinder von Anfang an von Bildungsangeboten profitieren können. Er sieht täglich, wie wichtig seine Arbeit ist: „Man bekommt immens viel zurück: Es ist schön zu sehen, dass die Kinder sich gut entwickeln und unterschiedliche Herkunft beim gemeinsamen Spielen überhaupt keine Rolle spielt. Außerdem bringen uns die Eltern eine tiefe Dankbarkeit entgegen.“