Kinderschutz: Hinschauen, Erkennen, Handeln

Es geht um ‚hinschauen, erkennen, handeln‘. Das heißt: Merkmale und Hinweise auf Kindeswohlgefährdung erkennen und dann wissen, was zu tun ist und die entsprechenden Wege zu kennen.

Rüdiger Mann arbeitet seit 30 Jahren in der Jugendhilfe und leitet seit vier Jahren das Jugendamt in Solingen. Im Interview schildert er, wie sich die Corona-Pandemie auf den Kinderschutz und die Arbeit des Jugendamtes auswirkt und welche wichtige Rolle Kitas und Tagespflegepersonen dabei einnehmen.

Wie arbeitet das Jugendamt in Zeiten von Corona beim Kinderschutz? Was hat sich verändert?

„Uns sind wichtige Kommunikationswege abhandengekommen. Wir erhalten normalerweise viele Meldungen von Kitas, Schulen und Kinderärzten, die in der Hochzeit von Corona jedoch ganz oder teilweise geschlossen waren. Das hat uns sehr besorgt. Wir sind davon ausgegangen, dass die Gefährdungslagen nicht weniger werden, sondern wir nur weniger sehen. Es gab jedoch eine sehr hohe Bereitschaft der Fachkräfte aus Kitas und Schulen, Kontakt mit den Familien zu halten, bei denen sie sich Sorgen um die Kinder machten. Sie haben zum Beispiel telefoniert oder sind gemeinsam im Park spazieren gegangen. Das hat uns in unserer Arbeit sehr weitergeholfen. Es hat sich nun bestätigt, dass es nicht weniger Kindeswohlgefährdungen gab.

Es sind außerdem häufig Familien betroffen, die uns schon bekannt sind und die wir möglicherweise auch schon durch ambulante Hilfen betreuen. Und diese Hilfen sind trotz der Kontaktbeschränkungen weitergelaufen. Die Kolleginnen und Kollegen haben sich andere Möglichkeiten einfallen lassen, wie etwa Hilfeplangespräche im Park. So konnten wir den Kinderschutz trotz allem gewährleisten und die Zahl unentdeckter Fälle geringhalten. Wir haben 80 Prozent unseres Tagesgeschäfts fast normal weitergeführt: nicht im Rathaus, sondern draußen.“

Kitas und Schulen sind mittlerweile größtenteils wieder geöffnet. Worauf muss jetzt besonders geachtet werden?

„Wir gehen zwar von einer kleinen Dunkelziffer aus, dennoch wird es unentdeckte Fälle gegeben haben und die werden jetzt nach und nach ans Tageslicht kommen. Wir sehen, dass die Fallzahlen für die ambulanten Hilfen während des Lockdowns etwas runtergegangen sind. Jetzt erwarten wir, dass die Welle der Fallzahlen wieder nach oben gehen wird.“

Wo sehen Sie die größte Herausforderung?

„Die größte Herausforderung ist für mich immer das Spannungsfeld zwischen – überspitzt gesagt: „Das Jugendamt nimmt die Kinder weg“ und „Das Jugendamt reagiert zu spät“. Das bekommen wir am besten hin, wenn wir eng mit den Familien in Kontakt sind – auch in Zeiten von Corona. Wenn wir sie möglichst früh an uns binden, beraten und Hilfestellung geben. Denn meistens passiert Kindeswohlgefährdung aus eigener Überforderung heraus. Damit der enge Kontakt gelingt, sollte zum Beispiel der Bereich der Frühen Hilfen gestärkt werden. Außerdem sollten die Fachkräfte in den Kitas gut im Bereich Kindeswohlgefährdung qualifiziert werden, damit sie mehr Handlungssicherheit gewinnen. Wenn ich für Solingen spreche, sind die Fachkräfte bereits sehr engagiert. Aber es kann immer noch besser werden. Es geht um ‚hinschauen, erkennen, handeln‘. Das heißt: Merkmale und Hinweise auf Kindeswohlgefährdung erkennen und dann wissen, was zu tun ist und die entsprechenden Wege zu kennen. Wie verhalten sich zum Beispiel Kinder, die Gewalt ausgesetzt sind? Was sind Verletzungen, die nicht üblich sind für Stürze? Wo erhalten betroffene Familien Hilfe?“

Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit mit Kitas und Tagespflegepersonen?

„Wir haben aktuell fast 100 Prozent der Kinder im Alter von über drei Jahren in Kitas. Im U3-Bereich sind es fast 40 Prozent mit steigender Tendenz. Kindeswohlgefährdung kommt selten wie der Blitz aus dem Himmel, sondern kündigt sich vorher an. Das ist für mich der entscheidende Punkt: Dass wir über Kitas und Kindertagespflegepersonen Kontakt zu Menschen bekommen, bei denen wir eine Überforderung sehen und Hinweise darauf, dass sich Gewalt entwickeln könnte. Die Familien können dann frühzeitig an entsprechende Stellen verwiesen und beraten werden. Wir haben in Solingen sehr viele gute Beratungsstellen und gute präventive Angebote, die schon weit vor einer Inobhutnahme Kindern und Erwachsenen helfen können.“

Hat Corona auch etwas Positives bewirkt?

„Einige Familien haben den Lockdown und die gezwungene Entschleunigung als entlastend empfunden. Das hat sich positiv auf die Familien ausgewirkt. Schule ist zum Beispiel ein großer Druckfaktor, der wegfiel. Eltern waren in Kurzarbeit und somit viel zu Hause. Gerade die Morgensituation ist in vielen Familien unglaublich stressig. Auch Freizeitstress gab es nicht. Wir sollten ja zu Hause bleiben und möglichst niemanden treffen. Ein Sonntagsspaziergang oder eine Fahrradtour mit der Familie war dann möglich. Wir hatten ja sehr gutes Wetter und die Familien sind viel draußen gewesen. Zum Ende des Lockdowns haben dann aber verstärkt Faktoren wie Zukunftsangst eine Rolle gespielt. Wir haben Familien erlebt, die sehr beengt wohnen und keinen Garten haben. Die haben deutlich unter der Situation und den kontaktreduzierenden Maßnahmen gelitten.“

Welche Rolle spielt Vernetzung im Bereich Kinderschutz?

„Netzwerkstrukturen sind das A und O für mich. Es ist wichtig, dass wir in Kontakt bleiben. Alle die mit Kindern zu tun haben, müssen sich um Kinderschutz kümmern. Keiner wird es allein lösen. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Das können wir nur in Netzwerken und guter Zusammenarbeit richtig lösen. Davon bin ich überzeugt und deswegen setzen wir hier stark darauf. Wir haben zum Beispiel Stadtteilnetzwerke, ein Netzwerk Frühe Hilfen, das Projekt „Kinderzukunft NRW“ sowie Fallbesprechungen in Kitas und Schulen. Dort können Erzieherinnen und Erzieher Fälle, bei denen sie sich unsicher sind, vorstellen und diese mit einer insoweit erfahrenen Fachkraft nach §8a SGB VIII besprechen.“