Interview mit Prof. Dr. Marjan Alemzadeh

Wenn wir auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen, werden wir jedes Kind bestmöglich in seiner Entwicklung unterstützen.

Interview mit Prof. Dr. Marjan Alemzadeh

Prof. Dr. Marjan Alemzadeh ist Professorin an der Hochschule Rhein-Waal im Studiengang Kindheitspädagogik. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Themen Beobachtung und Dokumentation, Eingewöhnung, Beziehung sowie der Gestaltung von Bildungsprozessen. Dies sind wesentliche Bausteine der „Partizipatorischen Didaktik“. Zusätzlich gibt Prof. Dr. Marjan Alemzadeh als freiberufliche Fortbildnerin und Referentin Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte sowie Vorlesungen und Seminare für Studierende an Hochschulen im Studiengang Frühkindliche Bildung und Erziehung. Prof. Dr. Marjan Alemzadeh möchte für Kinder eine Umgebung schaffen, in der sie all ihre Potenziale entfalten können. Wie dies auch während der Corona-Pandemie gelingen kann, berichtet sie im Interview.

Was waren die größten Herausforderungen in der Kindertagesbetreuung während der Corona-Pandemie?

„Die größten Herausforderungen in der Kindertagesbetreuung bestanden während der Corona-Pandemie auf struktureller Ebene. Für den Kita-Alltag mussten völlig neue Lösungen gefunden werden: Wie können Fachkräfte zu den Familien Kontakt halten? Wie können die Gruppen unter Berücksichtigung von Hygieneauflagen zusammengesetzt werden? Wie können Fachkräfte den Kindern trotz Pandemie pädagogische Angebote machen? Bei den Erzieherinnen und Erziehern bestanden viele Unsicherheiten und Ängste, die sich teilweise auf die Kinder übertragen haben.“

Wie kann der Regelbetrieb in den Kitas nach Corona aussehen? Was muss sich verändern? Worauf sollten pädagogische Fachkräfte besonders achten?

„Ich wünsche mir für die frühkindliche Bildung eine partizipatorische Didaktik. Das bedeutet für mich, dass Fachkräfte die Stimmen der Kinder stark in ihre pädagogische Arbeit miteinbeziehen. Dabei geht es nicht nur um die verbalen Stimmen, sondern vor allem bei den jüngeren Kindern um die nonverbalen, kindlichen Signale. Diese können Fachkräfte wahrnehmen, indem sie genau beobachten und besonders feinfühlig sind. Ein vierjähriges Mädchen berichtete mir kürzlich, dass sie derzeit nicht gern in die Kita gehe. Das erschloss sich im ersten Moment für mich nicht, da diverse Angebote in der Kita nun wieder starten: Von der Vorschulgruppe über den Waldtag. Statt sich darüber zu freuen, ist das Mädchen traurig, weil keine Zeit zum Spielen mit ihren Freundinnen und Freunden bleibt, die in jeweils anderen Gruppen sind. Als Kindheitspädagogin, die aus der Perspektive von Kindern forscht, nehme ich solche Aussagen sehr ernst. Während wir Erwachsenen derzeit den Fokus auf sämtliche Aufholprogramme richten, haben die Kinder teilweise andere Bedarfe. Einige Kinder benötigen einen sanften Übergang. Sie waren über einen langen Zeitraum in kleinen Gruppen mit wenig Kindern zusammen. Vor allem die jüngeren Kinder, die mit der Corona-Pandemie in die Kita kamen, kennen den Alltag nicht anders. Dies kann dazu führen, dass sie mit der Laustärke und den vielen Angeboten um sie herum überfordert sind. Freiräume zum Spielen und zum Verarbeiten von Erfahrungen ermöglichen Kindern häufiger intensivere Bildungsprozesse als ihnen vorgegebene Angebote. Das bedeutet nicht, dass Kinder nicht gefordert werden möchten. Sie lieben es, wenn pädagogische Fachkräfte ihre Themen und Interessen erkennen und daran anknüpfen. Genau deshalb müssen pädagogische Fachkräfte gut hinschauen und wahrnehmend beobachten, damit sie den unterschiedlichen kindlichen Bedürfnissen gerecht werden.“

Wie sieht eine kindzentrierte, partizipatorische Didaktik aus? Warum sollte sie im Mittelpunkt der Frühpädagogik stehen?

„Für eine kindzentrierte, partizipatorische Didaktik ist die professionelle Haltung von Fachkräften zentral. Dafür braucht es eine Ausbildung oder ein Studium, in dem angehende Fachkräfte ihre eigenen biografischen Erlebnisse reflektieren: Warum möchte ich die Stimmen der Kinder einbeziehen? Warum möchte ich Kinderrechte ernstnehmen? Warum soll Partizipation eine große Rolle spielen? Die wahrnehmende Beobachtung spielt dabei eine große Rolle. Wir brauchen gut qualifizierte Fachkräfte, die präsent sind und genau wahrnehmen, was die Kinder benötigen. Statt einer festen Vorschulgruppe einmal in der Woche sollten Fachkräfte die Themen der Kinder im Kita-Alltag aufgreifen. Wenn ein Kind beispielsweise Interesse an Buchstaben zeigt, kann die Fachkraft eine kleine Schreibwerkstatt einrichten. Das gemeinsame Tischdecken können Fachkräfte nutzen, um Zahlen zu lernen. In einer qualitativen Einrichtung, die die kindzentrierte, partizipatorische Didaktik in den Mittelpunkt stellt, lernen Kinder das meiste im pädagogischen Alltag und haben viel Spaß dabei! Unterschiedliche Forschungen in der Neurowissenschaft zeigen deutlich, dass Kinder besonders gern lernen, wenn sie emotional offen und begeistert sind.“   

Was können wir aus der Corona-Pandemie lernen?

„Aus meiner Sicht benötigen Kinder nun einen starken sozial-emotionalen Halt, insbesondere diejenigen, die während der Pandemie viel Stress zu Hause erlebt haben. Die Kinder, die in Not waren, haben gerade andere Themen als die fehlende Vorschulgruppe nachzuholen. Statt sich mit der Frage zu beschäftigen, was alles nachgeholt werden muss, sollten sich Pädagoginnen und Pädagogen viel mehr mit der Frage beschäftigen, was, welches Kind jetzt braucht. Das eine Kind braucht eine starke Vertrauensperson, bei der es wütend sein darf, ohne Ärger zu bekommen, die es auffängt, wenn es traurig ist und ihm Verständnis entgegenbringt. Hier sind feinfühlige Erzieherinnen und Erzieher gefragt, die eine gute Bindung zu dem Kind haben. Fachkräfte, die verstehen, dass die letzten Monate für das Kind nicht einfach waren, das kindliche Verhalten dementsprechend einordnen können und darüber hinaus Unterstützungsmöglichkeiten anbieten. Andere Kinder sind froh, dass sie nun wieder ihren Hobbies und Interessen nachgehen können. Sie freuen sich, dass das Tanzen oder Turnen wieder stattfinden darf und sie neue Herausforderungen erleben. Aus der Corona-Pandemie sollten wir vor allem lernen, wie wichtig es ist, flexibel zu sein. Wenn wir auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen, werden wir jedes Kind bestmöglich in seiner Entwicklung unterstützen.“