Bewegungsförderung von Kindern

Wir benötigen eine qualitativ hochwertige Bewegungsförderung und -ausbildung für Kinder!

Interview Prof. Dr. Alexander Woll

Prof. Dr. Alexander Woll ist Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Im Interview berichtet er über die Ergebnisse der MoMo Studie, die die körperliche Aktivität, Fitness und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Alter von vier bis siebzehn Jahren in den Blick nimmt. Das Besondere an der Studie: Sie startete bereits im Jahr 2003. Dadurch kann Prof. Dr. Alexander Woll die Bewegungsgewohnheiten von Kindern während der Corona-Pandemie mit den Jahren zuvor vergleichen. Im Interview erläutert er, welche langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen ein Bewegungsmangel bei Kindern hat, welche Kinder besonders betroffen sind und warum ein „Bewegungspakt“ bereits für die Kleinsten in Deutschland wichtig wäre.

Was ist das Besondere an der MoMo-Studie?

„Das „Motorik-Modul" (MoMo) analysiert seit vierzehn Jahren die Bewegungsgewohnheiten von Kindern in Deutschland. Da die Erhebungen während der Corona-Pandemie nicht mehr in Präsenz möglich waren, führten wir während des ersten und zweiten Lockdowns jeweils eine Online-Befragung durch. Die zuvor von 3.000 Kindern im Hinblick auf körperliche Aktivität, Fitness und Gesundheit erhobenen Daten können wir nun mit der Situation während der Corona-Pandemie vergleichen. Dieser direkte Vergleich macht unsere Studie deutschlandweit einzigartig. Es gibt einige Studien, die die Bewegung und Gesundheit von Kindern punktuell untersuchen, aber nicht über einen längeren Zeitraum.“

Inwiefern haben sich der erste und zweite Corona-Lockdown auf die Bewegung von Kindern ausgewirkt? Welche Unterschiede bestanden zwischen den beiden Lockdowns? Wie können Sie sich diese erklären?

„Bereits vor der Corona-Pandemie war Bewegungsmangel ein zunehmend größer werdendes Problem bei Kindern und Jugendlichen. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für Kinder und Jugendliche mindestens eine Stunde Bewegung am Tag. Diese Vorgabe hat vor der Pandemie ungefähr nur ein Viertel der Kinder und Jugendlichen erfüllt. Während des ersten Lockdowns ist entgegen unserer Erwartungen die Alltagsaktivität von Kindern im Alter von vier bis siebzehn Jahren um 36 Minuten pro Tag gestiegen. Das war für uns ein sehr spannendes Ergebnis! Dies hing mit unterschiedlichen Faktoren zusammen: Das Wetter war im April und Mai sehr warm und sonnig. Zudem waren während des ersten Lockdowns digitale Angebote und Homeschooling noch nicht so weit ausgebaut. Auch die Eltern waren durch das Homeoffice flexibler, gemeinsam mit den Kindern etwas zu unternehmen. Gleichzeitig bedeutete die Schließung der Sportvereine für die Kinder durchschnittlich 28,5 Minuten weniger organisierten Sport pro Tag. Zudem ist der Medienkonsum im Freizeitbereich um 61,2 Minuten angestiegen. Während des zweiten Lockdowns konnten wir einen starken Einbruch in der körperlichen Aktivität, vor allem bei den jüngeren Kindern, feststellen. Das lag zum einen am schlechteren Wetter. Zum anderen waren Eltern und Kinder zeitlich wieder stärker durch berufliche Verpflichtungen und sonstige, digitale Angebote eingebunden. Zusätzlich trat eine gewisse Pandemiemüdigkeit ein. Der tägliche Medienkonsum stieg noch weiter auf 222 Minuten Bildschirmnutzung in der Freizeit an - ohne Homeschooling."

Welche langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen hat der Bewegungsmangel von Kindern?

„Durch die Längsschnittstudie konnten wir die Daten in den Gesundheitsparametern gut miteinander vergleichen. Im ersten Lockdown konnten wir vor allem eine starke Verschlechterung der psychischen Gesundheitsparameter beobachten. Ein Drittel der Kinder hatte psychische Auffälligkeiten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Auch die motorische Leistungsfähigkeit verschlechterte sich zwischen dem ersten und zweiten Lockdown bei den Kindern. Da sich die Motorik mit zunehmendem Alter bei Kindern in der Regel verbessert, ist das ein besorgniserregendes Ergebnis. 48 Prozent geben an, dass sich ihre Fitness verschlechtert habe. Mit der MoMo-Studie konnten wir außerdem eine Gewichtszunahme bei 30 Prozent und eine Gewichtsabnahme bei 10 Prozent der Kinder feststellen. Unter den Kindern, die bereits vor der Pandemie übergewichtig waren, haben 70 Prozent weiter zugenommen."

Welche Kinder sind besonders betroffen?

„Grundsätzlich lässt sich feststellen: Bei den Kindern, die bereits Probleme hatten, verschärften sich die Probleme weiter. Die Pandemie wirkt quasi als Beschleuniger. Die gesundheitlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie sind für die Risikogruppen besonders groß. Die soziale Schere geht weiter auf. Die Pandemie ist Brennglas für soziale Ungleichheit. Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Bewegungsverhalten von Kindern, die einen Zugang zum Garten haben, während der Corona-Pandemie weitestgehend stabil blieb. Wir stellten hingegen auch fest, dass in Großstädten und vor allem in sozial schwierigen Lagen der Bewegungsmangel bei Kindern am stärksten war. Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, wie bedeutsam es ist, dass insbesondere in beengten Wohngebieten Kinder Zugang zu sicheren, wohnungsnahen Grün- und Spielflächen haben. Neben der räumlichen Entwicklung sollten mehr digitale Bewegungsangebote geschaffen werden, die alle Kinder erreichen. Ein spannendes Ergebnis unserer Online-Befragung ist, dass wir während des zweiten Lockdowns einige Kinder mit digitalen Bewegungsangeboten erreichten, die wir mit analogen Angeboten ansonsten nicht erreichen. Vor diesem Hintergrund sollten wir hier weiter am Ball bleiben!"

Was braucht es, um den gesundheitlichen Folgen durch Bewegungsmangel zu begegnen?

„Kinder können die Entwicklungsrückstände aufholen, allerdings braucht es dafür die richtigen Programme. Wir benötigen eine qualitativ hochwertige Bewegungsförderung und -ausbildung für Kinder!  In unserer Gesellschaft sind wir häufig auf die kognitive Leistung fixiert: Auf den Spracherwerb, später aufs Lesen und Rechnen. In Deutschland wird das Thema Bewegung bei Kindern häufig hintenangestellt. Dabei ist die Förderung des gesamten Körpers für eine ganzheitliche Gesundheit relevant. Je jünger Kinder sind, desto stärker sind die Zusammenhänge zwischen der motorischen Entwicklung und sozial-emotionalen sowie kognitiven Entwicklungsbereichen. Die MoMo-Studie belegt, wie wichtig frühe Förderangebote in diesem Bereich sind. Mit einer 70-prozentigen Wahrscheinlichkeit wird aus einem übergewichtigen Kind ein übergewichtiger Erwachsener. Entwicklungsrückstände, die ein Kind in der Motorik aufbaut, bleiben häufig über eine lange Lebensspanne bestehen. Neben Angeboten zur kognitiven Entwicklung von Kindern braucht es deshalb unbedingt auch Förderangebote, die ihre Bewegung und Motorik fördern. Ein Digital- und Bildungspakt sind wichtig, genauso braucht es aber einen Bewegungspakt, bereits für die Kleinsten! In der Gesundheitsprävention wünsche ich mir ein Umdenken – in der Politik, bei Fachkräften und Eltern. Auf kommunaler Ebene ist eine gute Vernetzung zwischen den Sport- und Bewegungsorganisationen und den Kitas wichtig. Ich glaube, dass hier noch sehr viel Potenzial besteht. Wir haben in Deutschland eine flächendeckende Landschaft an Sportorganisationen, mit denen neue Formate und Konzepte erarbeitet werden können. Auch in den Rahmenlehrplänen von pädagogischen Fachkräften sowie in Fort- und Weiterbildungen sollte Bewegungsförderung eine größere Rolle spielen."