„Es geht auch um neue Plätze, aber vor allem brauchen wir mehr Stabilität - insbesondere durch mehr Personal.“

Prof. Dr. Susanne Kuger ist Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) und Professorin für Empirische Sozial- und Bildungsforschung im Kindes- und Jugendalter an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Im Interview spricht sie über regionale Unterschiede in der Kindertagesbetreuung, ungeplante Schließzeiten und worauf es beim Ausbau jetzt ankommt.

Wie hat sich der Ausbau der Kindertagesbetreuung in der jüngsten Zeit entwickelt?

Von 2006 bis 2017/18 wurde die Kindertagesbetreuung in allen Altersgruppen und vor allem für die Kinder unter 3 Jahren sehr stark ausgebaut. Nach dieser langen Phase des Ausbaus ist die Kurve in den letzten Jahren ein bisschen abgeflacht.

In der jüngsten Zeit unterscheiden sich die Entwicklungen immer stärker zwischen den Altersgruppen. Insgesamt steigt der Anteil der betreuten Kinder weiterhin leicht. Aber in absoluten Zahlen haben wir aktuell ein leicht abfallendes Niveau, fast quer durch Deutschland.

Woran liegt es, dass die Anzahl der betreuten Kinder leicht abnimmt?

2021/22 dachten wir, es sei ein Corona-Knick. Teilweise stimmt das auch: In dieser Zeit waren Kitas nicht in der Lage, Eingewöhnungen durchzuführen und Kinder wurden teilweise später eingeschult, sodass keine neuen Kinder aufgenommen werden konnten. Einige Eltern waren auch wegen der Angst vor Ansteckung zögerlich, ihre Kinder in die Kita zu geben.
 
Mittlerweile sieht man aber auch eine langfristige Entwicklung. Dabei spielt vor allem die Bevölkerungsentwicklung eine große Rolle. Seit 2023 sinkt die Geburtenrate und das kommt schon nach einem Jahr in den Kitas an. Im Osten sinken die Geburtenraten sogar schon länger. 

Wie unterscheidet sich die Entwicklung zwischen den Altersgruppen?

Bei den Kindern unter drei Jahren haben wir weiterhin einen kleinen Ausbau. Die Anzahl der betreuten Kinder sinkt zwar um einige Tausend, aber der Anteil der betreuten Kinder steigt in dieser Altersgruppe in den meisten Bundesländern weiterhin leicht.
 
Bei den Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren hatten wir lange eine Beteiligungsquote von 96-98 Prozent. Die Beteiligungsquote ist der Anteil der Kinder in einer Altersgruppe, der eine Kita oder eine Kindertagespflege besucht. Lange konnten wir also sagen: Fast alle Kinder dieser Altersgruppe sind in der Kita. Das geht jetzt ein bisschen zurück. Wir wissen noch nicht, woran das liegt. Aktuell haben wir in dieser Altersgruppe eine Beteiligungsquote von 92 Prozent, was uns ins Nachdenken bringt. Fiele die Quote unter 90 Prozent, wäre es eins von zehn Kindern, das vor der Schule nicht die Sozialisation der frühen Bildung erlebt hat und dadurch mit anderen Voraussetzungen in der Grundschule ankommt. Nicht unbedingt schlechter, aber anders.

Was sind Ihre Erkenntnisse mit Blick auf regionale Unterschiede?

Große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland existieren weiterhin. Die Beteiligungsquoten, die Frauenerwerbstätigkeit und die Bevölkerungsentwicklung unterscheiden sich. Im Osten gibt es sowohl viele Kita-Plätze als auch eine hohe Nachfrage der Eltern. Die Anzahl der Kinder geht hier aus demografischen Gründen zwar zurück, aber die Beteiligungsquoten bleiben gleich. Im Westen haben wir weiterhin eine große Lücke zwischen elterlichem Bedarf und dem Betreuungsangebot, besonders bei Kindern unter drei Jahren. Es gibt weiterhin einen Kitaplatz-Ausbau, aber die Dynamik verlangsamt sich insgesamt. Wobei die Beteiligungsquote hier insgesamt in den letzten ein bis zwei Jahren wieder etwas gestiegen ist.
 
Auch das Eintrittsalter unterscheidet sich zwischen Ost- und Westdeutschland: im Osten gehen Kinder im Mittel mit 16 Monaten, im Westen mit 23 Monaten in die Kita. Im Westen gibt es Regionen, wo zumindest bei der Erwerbsarbeit zu einem deutlich höheren Anteil traditionellere Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern gelebt werden. Dort arbeitet eine Person in Vollzeit und die andere maximal in Teilzeit. Dann ist es auch weniger ein Problem, wenn das Kind erst mit drei Jahren in die Kita geht.

Sie haben auch ungeplante Schließzeiten von Kindertageseinrichtungen untersucht. Gibt es hier auch regionale Unterschiede?

Wir haben es mit einer Ansammlung von Problemlagen zu tun: Dort, wo es Fachkräftemangel gibt und Ausfallzeiten weniger kompensiert werden können, gibt es mehr ungeplante Schließzeiten. In Metropolregionen ist das häufiger der Fall als auf dem Land. Einerseits ist der Druck durch eine hohe Nachfrage ohnehin größer. Andererseits finden Fachkräfte in den Metropolregionen auch attraktivere Arbeitsmärkte. Wenn es ihnen in einer Kita nicht gefällt, kündigen sie und gehen in die nächste. Diese Fluktuation führt eben auch zu mehr Einarbeitungs- und Übergangslücken. Im Ergebnis berichten Eltern in Städten und dicht bevölkerten Regionen von deutlich mehr Schließtagen. Im Westen auch deutlich mehr als im Osten: 2023 berichteten 48 Prozent der Eltern im Westen von mindestens einer Woche ungeplanter Schließzeit im laufenden Kita-Jahr – im Osten waren es nur 29 Prozent. 

Welche Belastungen entstehen dadurch für die Eltern?

Eltern erhalten kurzfristig die Nachricht: „Morgen ist die Kita zu“. Einzelne Tage können sie meist noch selbst kompensieren, aber eine ganze Woche ist schon schwieriger. Wenn die Kita kurzfristig länger geschlossen ist, sagen zwei von drei Eltern, dass es schwer oder sehr schwer ist, eine alternative Betreuung für ihr Kind zu organisieren.
 
Wir haben auch gefragt: „Wer übernimmt denn dann?“ Sowohl bei Kindern unter drei Jahren als auch im Alter von drei bis sechs Jahren übernehmen die Eltern in 97 bzw. 98 Prozent der Fälle selbst die Betreuung. Zu 55 bzw. 53 Prozent springen die Großeltern ein. Dafür müssen sie jedoch in der Nähe wohnen. Das ist zum Beispiel bei Geflüchteten oder Personen, die für den Job weggezogen sind, nicht der Fall. Letzteres sind vor allem Akademikerinnen und Akademiker, bei denen häufig auch beide Elternteile arbeiten. Auf diesen Eltern lastet dann der doppelte Druck: Sie wohnen eher in der Stadt und sind somit häufiger von Schließzeiten betroffen, ohne Großeltern in der Nähe zu haben.

Was hat das für Auswirkungen auf die Kinder?

Das Wohlbefinden der Kinder hängt davon ab, wie dynamisch das Schließungsgeschehen ist. Hat die Kita auf, hat sie zu? Diese Unsicherheit, vor der die Familie steht, setzt auch den Kindern zu. Wir bekommen aus den Einrichtungen mit, dass die Geduld der Eltern nachgelassen hat. Kitas berichten, dass die Kooperationsbereitschaft der Eltern abnimmt und es häufiger zu einer konfliktartigen Kommunikation mit den Fachkräften kommt.

Worauf kommt es beim Ausbau der Kindertagesbetreuung in Zukunft an?

Wir müssen das Kita-System weiter massiv stärken. Es geht auch darum, neue Plätze zu schaffen, aber vor allem brauchen wir mehr Stabilität – insbesondere durch mehr Personal. Dafür sollten wir die Attraktivität des Berufs stärker hervorheben und zeigen, was sich im Berufsfeld bereits getan hat: Die Bezahlung für Fachkräfte ist in den letzten zehn Jahren überproportional gestiegen. Zudem geben Kindern den Erzieherinnen und Erziehern viel zurück: Der Beruf wird von den Fachkräften als sehr sinnstiftend und bereichernd erlebt. In der Kita haben Fachkräfte außerdem viel Gestaltungsfreiraum. Damit nicht so viele Berufsanfängerinnen und -anfänger das Feld wieder verlassen, sollten sie durch Praxisanleitungen gut begleitet werden.

Was wir an den ERiK-Daten auch sehen: Die Anzahl vor allem kleiner Kitas nimmt erstaunlicherweise zu. Diese verfügen aber im Gegensatz zu großen Trägern häufig nicht über jahrzehntelange Erfahrung bei der professionellen Unterstützung des Personals. Deshalb sollten sie besser begleitet und unterstützt werden. Sinnvoll wären zum Beispiel Netzwerke oder auch Kitas, die als Großverbund zusammenkommen, um sich gegenseitig Tipps zu geben oder Ressourcen zu bündeln. 

Wir danken Ihnen für das Gespräch!